Herausragend: „Chagall“ von Annette Weber
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Herausragend: „Chagall“ von Annette Weber

Titelseite "Chagall" von Annette Weber.

Titelseite „Chagall“ von Annette Weber.

Vorweg gesagt, dieses Werk verdient eine außerordentliche Würdigung: Mit „Chagall“ von Annette Weber hat der Verlag eine Hommage an den jüdischen Ausnahmekünstler geschaffen. 2,6 Kilogramm sind alleine für ein Buch gewichtig, das haptische Vergnügen des Schutzumschlags in Leinenstruktur und angekündigte 350 Seiten Inhalt lassen hohe Ansprüche Realität werden. Weber stellt sehr umfassend die Lebens- und Künstlerwelt des Marc Chagall dar. Der Inhalt alleine würde genügen, um ein anspruchsvolle Publikation über Chagall zu veröffentlichen. Aber das Vollendende sind die 142 farbigen Abbildungen, die „Chagall“ mit dem Untertitel „Die Sprache der Bilder“ zu einem Ausnahmewerk der Literatur werden lassen. Da spielt der Preis von anfangs 99,- Euro ein sekundäre Rolle, denn angesichts dieses Vergnügens, den das Buch bereitet, ist eine Überlegung nach dem Preis-Leistungsverhältnis überflüssig.

Weber teilt den Inhalt in sieben Bereiche auf:

  • Jüdische Lebenswelt und künstlerische Identität
  • Rückkehr nach Russland
  • Künstlerische und gesellschaftliche Erwartungen
  • Die internationalen Jahre in Berlin und Paris
  • Exil in Amerika
  • Rückkehr nach Frankreich
  • Anhang

Mit dem Prolog steigt Weber ein und umreißt das Schaffen des Künstlers. Das beginnt in Berlin mit seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie „Der Sturm“, wo die ersten seiner Bilder verkauft werden. Der Kunstkritiker Ludwig Rubiner bezeichnet ihn gar als „Erfinder des Expressionismus“. In der damaligen Hauptstadt zerstieben seine Hoffnung auf eine neue Existenz – zerstört durch die Inflation in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Chagall erfährt in Deutschland breite Unterstützung. So gibt Weber einen schnellen Überblick, der spannend Chagall in den Wogen des Weltgeschehens widerspiegelt, begleitet von Bildern aus dieser Zeit.

Großformatige Abbildungen im neu erschienen Buch "Chagall" von Annette Weber.

Großformatige Abbildungen im neu erschienen Buch „Chagall“ von Annette Weber.

Im Kapitel „Jüdische Lebenswelt und künstlerische Identität“ werden die Anfangsjahre des Ausnahmekünstlers näher beleuchtet. Die Autorin hat sich äußerst intensiv und tiefgründig mit Chagall befasst und bringt es gekonnt, aber vor allem spannend, zu Papier. Auch wenn es „nur“ Fakten sind, so ist das Leben von Chagall ein reales Phantastikum, das ein Autor erstmal erfassen und dann in adäquate Worte fassen muss. Sie geht dabei auf alles, was Chagall in seinem Leben begleitete sehr dezidiert ein, pointiert von kleinen Zeichnungen aus der Skizzenphase oder großartigen Gemälden. 1887 in einem Vorort im heutigen Weißrussland geboren, erlebt er als Kind die Wirren der russischen Nation, die auch mit Schicksalsschlägen für die jüdische Bevölkerung verbunden ist. Gesellschaftliche Umbrüche bestimmen die Zeit, aber auch der Aufstieg einer kulturellen Elite. Chagall wird geprägt durch jüdische Künstler, die Welt des Schtetls und der traditionellen jüdischen Kultur. Er wollte nie nur als jüdischer Künstler gesehen werden, sagte aber einmal: „Wäre ich nicht Jude gewesen, wäre ich kein Künstler geworden, oder doch ein ganz anderer.“ Nicht nur die detaillierten Darstellungen Chagalls Leben nehmen den Leser gefangen, vor allem die realistisch anmutende Qualität der Beschreibungen zieht den Leser in den Bann. Das Layout – auf den 24 mal 32 Zentimeter großen Seiten auf hochwertigem Bilderdruckpapier sind zwei Spalten großzügig platziert – genehmigt ein entspanntes Lesen. Der bewusste Weißraum um den Text geben dem Leserauge die notwendige Ruhe, sich auf den Inhalt konzentrieren zu können. Großformatig abgebildet finden sich die frühen Kunstwerke Chagalls aus den Jahren 1906 bis 1922, teilweise fast doppelseitig wiedergegeben. Sämtliche Bilder sind fachgerecht beschrieben, sodass einerseits der Kunstinteressierte die Arbeit komprimiert erfassen kann, andererseits der Laie sich der Kunst und seiner Sprache annähern kann.

Das Kapitel „Rückkehr nach Russland“ beschreibt Chagalls Kurz-Aufenthalt im Juni 1914 in seiner Heimatstadt Witebsk anlässlich der bevorstehenden Hochzeit seiner Schwester. Eine Rückkehr nach Paris, seinem seinerzeitigen Aufenthaltsort, wird jäh durch den Beginn des Ersten Weltkriegs im Juli verhindert. Für den Kriegsdienst ist Chagall ungeeignet und wird ausgemustert, er arbeitet dafür in einem Kriegsbüro. Ende Juli heiratet er seine Verlobte Bella Rosenfeld, ganz nach den jüdischen Traditionen, entgegen seiner freien Lebensgewohnheiten, die er sich in Künstlerkreisen inzwischen zugelegt hatte. Chagall widmet sich künstlerisch dem jüdischen Leben, es entstehen Bilder „Der Jude“, unterschieden in Farben. Seiner Heimatstadt sind ebenfalls einige Bilder gewidmet.

„Künstlerische und gesellschaftliche Erwartungen“ beleuchten seine Zeit in der Witebsker Kunstschule und als Theatermaler in Moskau in diesem kurz gefassten Kapitel. Diverse Gemälde, eine Wanddekoration für das jiddische Kammertheater in Moskau werden abgebildet und beschrieben.

Chagalls "König David" (Abbildung im Buch "Chagall").

Chagalls „König David“ (Abbildung im Buch „Chagall“).

Auf 67 Seiten setzt sich Weber mit einer wichtigen Zeitraum Chagalls auseinander: „Die internationalen Jahre in Berlin und Paris“ lautet die Überschrift. Es ist die Zeit, als sich Chagall als internationaler Künstler etabliert, begleitet von privaten Niederlagen. Die außerordentliche Qualität der Abbildungen muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, weil sie den Leser immer wieder visuell in seine Werke hinein ziehen, ihn direkt teilhaben lassen an dem künstlerischen Werk. Die weiteren Stationen seines Lebens, sein „Exil in Amerika“ und seine „Rückkehr nach Frankreich“ wird reich bebildert und dargestellt auf den folgenden 66 Seiten des Buches. Den Abschluss bilden Monumentalaufträge und Glasfenster, wobei insbesondere die 12 Glasfenster in der Synagoge des Hadassah Medical Center in Ein Kerem nach Jerusalem als herausragend gilt. Jedes dieser Abbildungen ist eine Seite gewidmet, wobei leider die Farbenpracht, die sich bei Sonneneinstrahlung ergibt, gedruckt naturgemäß leider nicht wiederfinden kann. Erwähnt, aber nicht abgebildet sind die drei Wandteppiche in Israels Parlament im Chagall-Saal. Eine Zeittafel und ein Verzeichnis der Werke Chagalls runden dieses Werk zu einer sehr gelungen und empfehlenswerten Publikation ab.

Fazit
„Chagall“ von Annette Weber ist eine herausragende Publikation zum Thema. Sprachlich und inhaltlich gewandt, stellt die Autorin den Ausnahmekünstler dar. Das wird bereichert durch großformatige Abbildungen von Werken Chagalls, drucktechnisch und buchbinderisch einwandfrei verarbeitet. Für den aktuellen Preis ist das Buch eine freudige Investition wert, die über einen langen Zeitraum genossen werden kann. 5 von 5 Sternen!

Annette Weber
Annette Weber studierte Kunstgeschichte, Archäologie, Alte Geschichte und Judaistik in Freiburg, München und Paris und wurde bei Erik Forssman promoviert. Einen Namen machte sie sich als Kuratorin zahlreicher Ausstellungen am Jüdischen Museum Frankfurt, darunter »Expressionismus und Exil« (1990), »Die Rothschilds – eine europäische Familie« (1994) und »Chagall und Deutschland« (2004). Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Judenbild im Mittelalter, die Rolle von Kunst und Kultur im jüdischen Bürgertum und Chagall als Maler der Moderne. Seit 2004 bekleidet Annette Weber den Lehrstuhl für jüdische Kunst an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. (Text über Annette Weber: wbg Theiss, Darmstadt)

Weber, Annette

Chagall

Etwa 352 S. mit 142 farb. Abb., Bibliogr. und Reg., 24 x 32 cm, geb. mit SU. wbg Theiss, Darmstadt.
99,00 Euro (ab 1.2.19: 129,00 Euro)
ISBN 978-3-8062-3750-4

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