„Utopie mit Milch und Zucker – Das Café Tamar in Tel Aviv“
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„Utopie mit Milch und Zucker – Das Café Tamar in Tel Aviv“

2.6.2013 – 9.15 Uhr – 3sat: Keine andere Straße in Tel Aviv symbolisiert den Traum von einem linken, europäisch geprägten jüdischen Staat besser als die Sheinkin-Straße. Das Café Tamar steht seit seiner Gründung vor sechs Jahrzehnten für diese Tradition. Hier spiegelt sich die Geschichte des ganzen Landes. Der Film stellt diesen Mikrokosmos vor.

Die ganz spezielle Lebensart von Tel Aviv verdichtet sich besonders eindrücklich im Café Tamar. Nicht einfach ein Kaffeehaus, sondern eine Institution, ein Ort heftiger gesellschaftlicher Debatten, ein geistiges Zentrum, wo Lebenslust und Politfrust heftig aufeinanderprallen. Ursprünglich wurde es vor allem von linken Intellektuellen, aber auch alten Kämpfern aus dem 6-Tage-Krieg bevölkert, dann kam irgendwann die Jeunesse dorée dazu und heute tummelt sich hier eine bunte und überaus interessante Mischung von Menschen, die den Mikrokosmos der israelischen Gesellschaft darstellen. Wer sich im Cafe Tamar in Diskussionen verstrickt, hat gute Chancen, wenigstens einen kleinen Teil des Mysteriums Israel zu ergründen.

Im Schanigarten über Selbstmordanschläge diskutieren
Der kleine Schanigarten ist immer gut besetzt. Viele Israelis haben sich einen entspannten Umgang mit existentiellen Bedrohungen angewöhnt. Im Café Tamar diskutieren sie in gemütlicher Schanigartenatmosphäre über Selbstmordanschläge, Scudraketen und die Ajatollahs. Wer politisieren möchte und wer sich links fühlt, ist hier zu Hause. Dieses Kaffeehaus ist eine Institution in Israel wie das Hawelka in Wien.

Viele prominente Stammgäste gehen hier ein und aus: darunter der Sohn von Ephraim Kishon, Rafi Kishon. Einerseits eifert er seinem berühmten Vater nicht nach: Rafi ist Tierarzt und Grünpolitiker in Israel. Andererseits hat er Ephraim Kishons Humor geerbt, er bringt Menschen und Tiere zum Lachen. Das Arbeitszimmer seines verstorbenen Vaters ist unberührt. Doch nicht alle Gäste im Tamar nehmen das Leben so leicht wie Rafi Kishon.

Eine Institution wie das Hawelka in Wien
Sarah Stern ist die Josefine Hawelka von Tel Aviv, sie führt seit 1955 ihr Café Tamar mit strengem Regiment. Viele dort sehen die Zukunft Israels düster, zum Beispiel der Grafiker David Tartakover. Er schockiert mit seinen Plakaten das Land, die unter anderem Verletzte nach palästinensischen Selbstmordanschlägen zeigen.

Viele im Tamar haben die Hoffnungen nach der Ermordung von Premier Yitzhak Rabin aufgegeben. Rabins Tod, ein Wendepunkt in der jüngeren israelischen Geschichte, hat sich nur wenige Kilometer entfernt vom Café Tamar abgespielt. Die Besitzerin des Café Tamar war eng mit den Rabins befreundet. Ihr Lokal gilt heute als die wichtigste Erinnerungsstätte für den erschossenen Politiker.

(Text: 3sat)

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