„Auf das Leben! – jüdisch in Deutschland“
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„Auf das Leben! – jüdisch in Deutschland“

Rabbiner Benjamin Wolff bei der Einweihung einer neuen Torahrolle für das orthodoxe jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch in Hannover. (© Matthias Hinrichsen)

Rabbiner Benjamin Wolff bei der Einweihung einer neuen Torahrolle für das orthodoxe jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch in Hannover. (© Matthias Hinrichsen)

16.06.2012 – 17.55 Uhr – Das Erste: Kann es in Deutschland jemals wieder „normales“ jüdisches Leben geben? Dieser Frage spürt Gesine Enwaldt in Hannover nach. Die dortige jüdische Gemeinde war vor 1933 eine der größten und reichsten Deutschlands. Davon ist im heutigen öffentlichen Bewusstsein kaum etwas geblieben.

Dennoch geht der Wiederaufbau des jüdischen Lebens voran – vielfältiger, widersprüchlicher und leidenschaftlicher, als manch Außenstehender ahnt. Der Film zeigt das Alltagsleben Hannoveraner Juden, die unterschiedlicher nicht sein können:
Rabbi Benjamin Wolff leitet in Hannover das orthodoxe jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch. Er ist mit seiner Familie aus Israel nach Hannover gekommen, um „das Judentum in Hannover zu entwickeln“ und die Traditionen zu lehren.

Die Synagoge der ältesten und größten jüdischen Gemeinde in Hannover, in der Arkadi Litvan zweiter Vorsitzender ist. (© Matthias Hinrichsen)

Die Synagoge der ältesten und größten jüdischen Gemeinde in Hannover, in der Arkadi Litvan zweiter Vorsitzender ist. (© Matthias Hinrichsen)

Arkadi Litvan, der zweite Vorsitzende der ältesten und größten jüdischen Gemeinde in Hannover, stammt aus Odessa. Die meisten seiner Gemeindemitglieder sind ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen, obwohl kaum einer von ihnen religiös ist. Beim Gottesdienst sind Männer und Frauen streng getrennt. Im Keller der Synagoge befindet sich die Mikwe, das Tauchbad für die rituelle Reinigung der Frauen nach dem Zyklus.

Katharina Seidler hat Mitte der 90er Jahre der orthodoxen Gemeinde den Rücken gekehrt. Jetzt ist sie die zweite Vorsitzende der liberalen Gemeinde Hannovers. Sie will die alten Traditionen mit dem modernen Leben verknüpfen. Ihre Gebetssprache ist zwar immer noch hebräisch, aber die Stellung der Frau ist eine völlig andere. Tochter Rebecca Seidler hat den ersten liberalen Kindergarten Deutschlands gegründet. Sie gibt in der neuen Synagoge, dem ganzen Stolz der jungen liberalen jüdischen Gemeinde, ihrem Freund Tino nach vier Jahren „wilder Ehe“ das offizielle Ja-Wort.

Salomon Finkelstein trifft sich einmal in der Woche in einem Hannoverschen Café mit einem alten Freund, um Erinnerungen auszutauschen. Die beiden haben Terror und Todeslager überlebt und lange geschwiegen. Nun schildert Salomon Finkelstein seine persönlichen Erinnerungen an KZ-Arzt Mengele.

Professor Andor Izsak dirigiert in der Marktkirche Hannover während des Konzertes anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus die Berliner Domkantorei. (© Matthias Hinrichsen)

Professor Andor Izsak dirigiert in der Marktkirche Hannover während des Konzertes anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus die Berliner Domkantorei. (© Matthias Hinrichsen)

Professor Andor Izsak versucht, die Musik der Synagogen, die die Nazis für immer vernichten wollten, zu neuem Leben zu erwecken. Er stammt aus Ungarn und baut nun in Hannover das Europäische Zentrum für Jüdische Musik auf. Die jüdische Synagogenmusik übt er sogar in der christlichen Kirche mit dem christlichen Kirchenchor ein. Dagegen erlaubt die orthodoxe Synagoge beim Gottesdienst keine Musik. Andor Izsak fühlt sich deshalb mit dem Herzen in der traditionellen Gemeinde, aber mit dem Kopf und den Ohren in der liberalen Gemeinde zu Hause.

So unterschiedlich sie sind, eins ist ihnen gemeinsam: Sie alle müssen sich in ihrem Umfeld immer wieder mit den absonderlichsten Fragen auseinandersetzen. Ob deutsche Schuldgefühle, jüdische Identität oder die Sicherheitslage – die Juden in Deutschland müssen sich immer einen Gedanken mehr machen als andere. Einfach ganz normal jüdisch sein? Selbstverständlich ist das noch lange nicht.

(Text: Das Erste, Fotos: Matthias Hinrichsen)

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