Menschen mit fühlenden Haaren?

Der fühlende Finger wird getestet. (© Weizmann-Institut)
REHOVOT (wi) – Wissenschaftler des Weizmann Instituts erforschen, ob Menschen genau wie Ratten in der Lage sind, ähnlich Ratten mit Schnurrhaaren zu tasten. „Beides, sowohl das Sehen als auch das Ertasten basieren auf einer Anzahl von Rezeptoren, die die Außenwelt in aktiver Weise scannen,“ sagt Ehud Avissar, Leiter der Forschungsgruppe.
Ratten benutzen einen Sinn, den Menschen nicht haben: Tastsinn mit Haaren. Sie bewegen ihre Gesichtshaare etwa achtmal pro Sekunde hin und her, um Gegenstände in ihrer Umgebung zu lokalisieren. Könnten Menschen auch einen solchen Sinn erlernen? Und wenn sie es könnten, welche Aufschlüsse könnte uns die Untersuchung des Gewöhnungsprozesses an einen solch neuen Sinn über die vorhandenen Sinne beim Menschen geben? Am Weizmann Institut haben Forscher diese Fragen erforscht, indem sie Schnurrhaare aus Plastik an den Fingern von Testpersonen mit verbundenen Augen anbrachten und sie dann aufforderten, eine Lokalisierungsaufgabe auszuführen. Die Befunde, die kürzlich im Journal of Neurosciences erschienen sind, haben neue Einblicke in den Sinnesprozess geboten und sie könnten zur Entwicklung von Hilfsmitteln für Blinde führen.
Das Wissenschaftlerteam mit Dr. Avraham Saig, Dr. Goren Gordon und Eldad Assa aus der Forschungsgruppe von Prof. Ehud Ahissar sowie Dr. Amos Arieli, die alle im Fachbereich Neurobiologie arbeiten, brachte ein 30 cm langes Schnurrhaar aus Plastik mit Positions- und Kraftsensoren an den Zeigefingern beider Hände der Testperson an, deren Augen verbunden waren. Dann wurden zwei Maste in der Entfernung einer Armlänge schräg gegenüber der sitzenden Testperson aufgestellt, wobei ein Mast etwas weiter entfernt stand als der andere. Indem sie nur ihre Schnurrhaare benutzten, waren die Testpersonen dazu aufgerufen herauszufinden, ob der linke oder der rechte Mast weiter entfernt steht. Im Laufe des Experiments wurde die Entfernung der beiden Masten voneinander allmählich reduziert, bis die Testperson keinen Unterschied mehr zwischen dem linken und dem rechten Mast bemerken konnte.

Der Versuchsaufbau des fühlenden Fingers. (© Weizmann-Institut)
Am ersten Tag des Experiments setzten die Testpersonen den neuen Sinn so gut ein, dass sie völlig korrekt feststellen konnten, welcher Mast nur 8 cm weiter entfernt stand. Eine Analyse der Daten enthüllte, dass die Testpersonen dies herausfanden, weil sie die räumliche Information vom Timing des Sinnes unterscheiden konnten, d.h. durch Bewegung beider Hände mit den Schnurrhaaren konnten sie feststellen, welcher Mast weiter hinten stand, weil die eine Hand mit dem Schnurrhaar schneller Kontakt mit ihm aufnahm.
Als sie den Test am nächsten Tag fortsetzten, entdeckten die Wissenschaftler, dass die Testpersonen ihre Tastsinne mit dem Schnurrhaar deutlich verbessert hatten. Die durchschnittliche Sinnesschwelle ging bis auf 3 cm runter, wobei manche von ihnen sogar einen Unterschied von 1 cm feststellen konnten. Interessanterweise zeigten sich in diesen beiden Tagen keine Unterschiede in der Fähigkeit Zeitunterschiede festzustellen. Stattdessen wurde die Motorik ihrer Taststrategien immer besser: Langsamere Handbewegungen – also eine zeitliche Verlangsamung – ermöglichten es ihnen kleinere räumliche Unterschiede festzustellen.
Saig: „Wir wissen, dass unsere Sinne mit den Muskeln in Verbindung stehen, so z.B. die Augen- und die Handmuskeln. Um also die Textur eines Stoffes zu fühlen, bewegen wir unsere Finger über den Stoff, und unsere Augen befinden sich in ständiger Bewegung, um einen festen Gegenstand zu sehen. In dieser Forschungsarbeit sehen wir, dass eine Veränderung unserer physischen Bewegungen alleine – ohne parallele Veränderung der Empfindlichkeit unserer Sinne – ausreichen kann, unsere Wahrnehmung zu steigern.“
Auf der Grundlage dieser Experimente schufen die Wissenschaftler ein statistisches Modell, um zu beschreiben wie die Testpersonen ihren Blick auf die Welt aktualisieren, während sie neue Sinnesinformationen aufnehmen und zwar bis zu dem Punkt, an dem sie sich bereits auf diesen Sinn verlassen. Das Modell, das auf Prinzipien der Informationsverarbeitung aufbaut, könnte die Zahl der Schnurrhaarbewegungen, die zur Erlangung der korrekten Antwort notwendig sind, sowie das Scanmuster, das die Testperson einsetzt, die allmähliche Veränderung von langen zu kurzen Bewegungen erklären. Mit dieser Strategie bleibt der Informationsfluss konstant. „Das Experiment wurde in kontrollierter Weise durchgeführt, was uns einen direkten Zugang zu den relevanten Variablen ermöglichte: Handbewegung, Hand-Mast-Kontakt und die Berichte der Testpersonen selbst,“ sagt Gordon. „Es gab nicht nur eine gute Anpassung der Theorie an die experimentellen Daten, sondern wir erhielten auch einige sehr brauchbare quantitive Informationen über den Prozess der aktiven Sinneswahrnehmung.“
„Beides, sowohl das Sehen als auch das Ertasten basieren auf einer Anzahl von Rezeptoren, die die Außenwelt in aktiver Weise scannen,“ sagt Avissar. „Unsere Ergebnisse enthüllen neue Prinzipien der aktiven Sinneswahrnehmung und zeigen uns, dass wir einen neuen, künstlichen Sinn auf ganz natürliche Weise und zwar sehr effektiv aktivieren.“ Arieli fügt hinzu: „Unsere Zukunftsvision ist es, blinden Menschen dabei zu helfen, mit ihren Fingern zu `sehen´. Kleine Geräte zur Übertragung eines Videos in mechanische Stimulierung, die auf gemeinsamen Prinzipien aktiver Sinneswahrnehmung des Seh- und Tastvermögens basieren, könnten zu intuitiven, einfachen Sinneshilfsmitteln werden.“
Das Weizmann Institut in Rehovot, Israel, gehört weltweit zu den führenden multidisziplinären Forschungseinrichtungen. Seine 2700 Wissenschaftler, Studenten, Techniker und anderen Mitarbeiter sind in einem breiten Spektrum naturwissenschaftlicher Forschung tätig. Zu den Forschungszielen des Instituts gehören neue Möglichkeiten im Kampf gegen Krankheit und Hunger, die Untersuchung wichtiger Fragestellungen in Mathematik und Informatik, die Erforschung der Physik der Materie und des Universums und die Entwicklung neuer Werkstoffe und neuer Strategien für den Umweltschutz.
(Weizmann Institut Rehovot, Israel)