„Die Kinder von Blankenese“
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„Die Kinder von Blankenese“

Die Krankenschwester Rahel bringt Kinder aus dem mörderischen KZ Bergen-Belsen in das beschauliche Blankenese. (Filmszene © NDR Fotograf: Marion von der Mehden)

Die Krankenschwester Rahel bringt Kinder aus dem mörderischen KZ Bergen-Belsen in das beschauliche Blankenese. (Filmszene © NDR Fotograf: Marion von der Mehden)

9.11.2011 – 22.45 Uhr – Das Erste: Die Ärzte geben Tamar und Bracha nur noch wenige Wochen. In den Tagen nach der Befreiung des KZs Bergen-Belsen im April 1945 sterben noch Tausende an Fieber, Typhus und Unterernährung. Tamar hat den Todesmarsch von Auschwitz nach Bergen-Belsen mit wenigen anderen überlebt, Bracha hat gerade ihre Schwester im Lager verloren. Die beiden 14-Jährigen gehören zu den wenigen, die der Vernichtung und Verfolgung entkommen sind.

Aus Hamburg ehemals vertrieben, sucht der junge amerikanische Soldat Eric Warburg in den ersten Nachkriegstagen den Besitz seiner Eltern an der Elbe in Blankenese auf. 1938 hatten die Nationalsozialisten die Villa seiner Familie „arisiert“. Die britischen Besatzer sehen die Besitzverhältnisse des Geländes jedoch als „ungeklärt“ an und verweigern die Rückgabe. Entschlossen funktioniert Warburg das gesamte Anwesen zu einem Heim für überlebende jüdische Kinder um.
Vor den Toren des ehemaligen Konzentrationslagers, in den ehemaligen Unterkünften der SS, werden Tamar und Bracha und andere überlebende Kinder untergebracht. Unter ihnen Josef, der in einem russischen Kinderheim Unterschlupf fand und Wolfgang aus Berlin, der mit der britischen Armee nach Bergen-Belsen kam. Der zehnjährige Wolfgang muss mit ansehen, was von der Vernichtung Tausender übrig geblieben ist. Sind seine Eltern auch diesen Weg gegangen? Dies ist kein Platz für Kinder, beschließt Ben Yehuda – der in Deutschland geborene Soldat der Jüdischen Brigade. Es muss noch einen anderen Ort geben – Blankenese, der Besitz der Familie Warburg, wird zum Ziel, zum Ausweg.

Für die Kinder ist die Reise nach Blankenese der Beginn einer Kindheit, die nicht stattfand. Ben Yehuda und Rahel, eine Krankenschwester, die das Lager überlebt hat, bringen Tamar, Bracha, Josef und die anderen nach Hamburg-Blankenese. Eine 24-jährige Lehrerin aus New York, Betty Adler, soll die Leitung des Heimes übernehmen und Reuma Schwarz, 22, kommt mit viel Idealismus und über Umwege aus Palästina hinzu. Reuma kümmert sich um die Erziehung der Kinder, Ben unterrichtet und Rahel übernimmt die medizinische Versorgung. Betty hält alles zusammen. Viel guter Wille – wenig Erfahrung.

Die Kinder richten sich in ihren Zimmern ein, echte Betten und sogar genug Essen – sie können ihr Glück kaum fassen. Ben, Betty, Reuma und Rahel begleiten die Heranwachsenden, berichten von Palästina, dem Leben dort, den zionistischen Plänen, unterrichten hebräisch und beobachten das vorsichtige Zurücktasten der Kinder in ein Leben, das manche nur fern erinnern können, manche nie kennen gelernt haben. Tamar verliebt sich in einen Jungen aus Berlin. „Siegmar“ wird nun ihr ganzes Sehnen, ihr ganzer Wille zur Zukunft. Der aber hat nur Augen für die schöne Esther.

Filmszene (© NDR Fotograf: Marion von der Mehden)

Filmszene (© NDR Fotograf: Marion von der Mehden)

Mit Ungeduld warten die Kinder auf die Papiere für ihre Ausreise nach Palästina, doch diese Zertifikate werden von den britischen Behörden nur widerwillig und oftmals willkürlich augestellt. Als eine neue Gruppe von Kindern (die „Blonden“ – so genannte „Halb- und Vierteljuden“) zu den „Alteingesessenen“ um Tamar und Mascha stoßen, gibt es Ärger. Die Neuen, die „Blonden“, stehen für alles Deutsche, Arische.

Die Jugendlichen, die das KZ überlebten und sich nichts mehr sagen lassen wollen, erobern die Reeperbahn, erobern Hamburg und ein „neues Leben“. Striptease gegen Zigaretten. Der fortwährende Hass der Bevölkerung gegen alles „Jüdische“ ist überall in der Stadt zu spüren. Im Zoo sehen sich Rahel und Reuma den Beschimpfungen der Besucher ausgesetzt. Bei der Versorgung im Krankenhaus kommt es zu einem Eklat: Die Krankenschwestern wollen Golda, das „jüdische Mädchen“ nicht versorgen. Reuma ist entsetzt und schreibt ihren Eltern wöchentlich aus „dem Herzen von Nazi-Deutschland“.
Als dann die Passagiere des Schiffes „Exodus“ nach Hamburg zurückkehren, aufgebracht von den britischen Alliierten, es Kämpfe und Tote gegeben hat, weicht den Erziehern die Kraft. Aufgebrochen waren ihre Mitstreiter, zum Teil Freunde und Verwandte, voller Hoffnung. Nun werden die Überlebenden des Holocausts zurückgeschickt ins Land ihrer „Mörder“. Werden „ihre Kinder“ je nach Palästina gelangen?

In diese Trauer bricht die Nachricht von der Gründung Israels. Die noch fehlenden Zertifikate zur Ausreise werden ausgestellt, die Kinder können Deutschland verlassen. Ben veranstaltet eine Demonstration ihres neuen Selbstvertrauens, ihrer „Stärke“ – quer durch Blankenese. Erstaunte Blicke. Endlich fahren Ben, Rahel und Reuma mit den Kindern nach Israel.

Betty Adler bleibt zurück und bereitet von nun an junge Männer auf die Armee in Israel vor; Freiwillige. Nicht nur einige dieser Männer, auch manche „ihrer Kinder“ werden später in den „Befreiungskriegen“ fallen. Mascha und Tamar finden eine neue Heimat. Tamar heiratet ihre große Liebe, ihren Siegmar. Heute haben sie zwei Kinder und fünf Enkel.

In dem preisgekrönten Film „Die Kinder von Blankenese“ erzählt Regisseur Raymond Ley („Eichmanns Ende“, „Die Nacht der großen Flut“) ein bislang unbekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte: 20 Kinder und Jugendliche, Überlebende des KZ Bergen-Belsen, fanden 1945 Zuflucht in der ehemaligen Villa der jüdischen Industriellenfamilie Warburg in Hamburg.
Die meisten Zeitzeugen in Leys Doku-Drama äußern sich erstmals im Fernsehen zu dieser Zeit. Neben den ergreifenden Schicksalen der Kinder und Jugendlichen beleuchtet der Film, eine NDR-Produktion in Zusammenarbeit mit ARTE, auch den politischen Zionismus dieser Jahre und den Gründungsmythos des Staates Israel.

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