„Tel Aviv – Leben zwischen Himmel und Hölle“
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„Tel Aviv – Leben zwischen Himmel und Hölle“

Nicht umsonst wird ein Teil von Tel Aviv auch die

Tel Aviv eröffenet seine Schönheit und Sehenswürdigkeiten dem Besucher erst, wenn man sich darum bemüht, Magazine und Reiseführer wälzt, auch mal die eine oder andere Doku sieht. © ORF

6.5.2012 – 19.25-20.00 Uhr – 3sat: „Was so traurig an dem Leben hier ist, ist dass wir eine Insel mitten in der Hölle sind. Denn draußen ist es höllisch. Und ich weiß nicht, wie lange wird das überleben können“, sagt der Schriftsteller Yoram Kaniuk, der 1930 in Tel Aviv geboren wurde und für den die Stadt ein Sinnbild von Freiheit und Kultur ist. Tel Aviv, „The Big Orange“, ist bekannt für seine Offenheit und Toleranz. Eine „Party-City“ nennt die Journalistin Nilly Landsmann die Stadt. Angefangen hat alles auf den Dünen, ein paar Kilometer nördlich der 4000 Jahre alten Stadt Jaffa.

Von 66 jüdischen Familien gegründet

11. April 1909: Der Gründungstag der Stadt Tel Aviv - wo damals nur Sand war findet sich heute eine moderne Stadt © ORF

11. April 1909: Der Gründungstag der Stadt Tel Aviv - wo damals nur Sand war findet sich heute eine moderne Stadt © ORF

66 jüdische Einwanderer-Familien, die bis dahin in den engen und dunklen Gassen Jaffas gelebt hatten, erwarben im April 1909 per Los das Land, umgeben von arabischen Dörfern, um eine Gartenstadt zu errichten. Sie träumten von einer Stadt ohne Araber und nach europäischem Vorbild. Lea Alexandrovic, geboren 1914 als Tochter der Gründerfamilie Shlush: „Tel Aviv war eine wunderschöne Stadt. Sehr sauber und still. Jeder kannte hier jeden, weißt Du.“

In den 1930ern eine deutsche Stadt

Und immer blieb der Blick zurück! © ORF

Und immer blieb der Blick zurück! © ORF

In den 1930-er Jahren kamen viele deutsche und österreichische Immigranten nach Tel Aviv. Der Schriftsteller Yoram Kaniuk erinnert sich: „Bis 1933 oder 1934 war Tel Aviv eine russisch-polnische Stadt. Nun wurde es eine deutschsprachige Stadt: nun hieß es Ben Jehuda-Strasse und Dizengoff-Strasse. Alle Restaurants waren deutsch. Das Erstaunliche an diesen Deutschen war, dass die meisten von ihnen gut situiert waren, Bürgerliche, Ärzte und so. Aber sie arbeiteten trotzdem als Handwerker und bauten die Häuser, die sie später dann bezogen.“ Und trotzdem: Tel Aviv war nicht Wien oder Berlin. Kaniuk: „Ich hatte immer das Gefühl, dass die Menschen hier am liebsten über das Meer zurückgeschwommen wäre – nach Europa.“

Aus der kleinen Siedlung in den Dünen wurde im Laufe von Jahrzehnten das kulturelle und politische Zentrum des Landes. Aus Europa geflüchtete Architekten und Architektinnen brachten den Bauhaus-Stil mit in die Stadt am Mittelmeer, was sie 2003 zum UNESCO-Weltkulturerbe werden ließ. Hier rief am 14. Mai 1948 David Ben Gurion den Staat Israel aus. Tel Aviv war bis 1981 die Hauptstadt des jungen Staates Israel. Bis heute sind die meisten ausländischen Botschaften in Tel Aviv angesiedelt, ebenso wie der Geheimdienst Mossad und das Hauptquartier der israelischen Armee.

Tel Aviv ist ein Synonym für ein Leben in der Gegenwart, eine offene und freie Stadt, in der die sehr kurze Geschichte sich nicht bleischwer auf die Schultern der BewohnerInnen legt, eine „Stadt ohne Konzept“ und ständig in Bewegung. Dani Dothan, Enkelsohn des aus Österreich stammenden Architekten und Malers Leopold Krakauer, selbst Filmemacher, Autor und Musiker, bringt dieses Lebensgefühl auf den Punkt: „Ich kümmere mich nicht um die Geschichte Tel Avivs. Wir haben bereits tausende Jahre jüdischer Geschichte auf unseren Schultern, da brauchen wir nicht noch die von Tel Aviv. Die Geschichte von Tel Aviv ist sehr dumm. Ein paar Leute die kamen, um im Sand etwas aufzubauen. Na und? Jetzt, jetzt ist Tel Aviv fantastisch!“

Anziehungspunkt für viele

Tel Aviv, „The Big Orange“, ist ein Anziehungspunkt für junge Leute aus ganz Israel – und für jüdische Menschen aus der ganzen Welt. Dani Dothan nennt Tel Aviv die „Hauptstadt der Freiheit“. Kunst und Kultur, Wissenschaft und die Filmindustrie geben der Stadt ihr offenes, liberales Flair. Das Image, das Tel Aviv im Rest Israels hat, formuliert das einstige Party-Girl, die Journalistin Nilly Landsmann so: „Wir leben normalerweise nicht an der Front. Die militärischen Aktionen finden woanders statt. Mit Ausnahme der Zeit des ersten Golf-Krieges, als wir von Bagdad aus mit Raketen beschossen wurden. So entwickelte sich dieses Image von Tel Aviv: dort passiert der Krieg – und hier sitzen wir und trinken Kaffee und es ist uns alles egal.“

In Tel Aviv wird in jedem Café-Haus politisiert. „Salon-Linke“ nennt das der Schriftsteller Yoram Kaniuk. Der Ha’aretz-Journalist Shay Vogelmann meint dazu: „In anderen Gegenden Israels pflegen die Leute zu sagen, wir würden hier in einer Blase leben, dass Tel Aviv nicht Wirklichkeit ist, dass wir nicht ein Teil des Geschehens seien. Und es stimmt auch: wir fühlen uns nicht als Teil des Konfliktes, wir spüren es nicht im täglichen Leben und wir haben damit auch nichts zu tun.“

Verdrängung der arabischen Bevölkerung von Jaffa

Eine zum Teil politisch bewusst geschaffene Wirklichkeit ist die Verdrängung der arabischen Bevölkerung von Jaffa. Rifaad Tourk, der einzige arabische Israeli, der jemals in der israelischen Fußball-Nationalmannschaft gespielt hat, kämpft gegen diesen Umstand an. Und kümmert sich um die Kinder und Jugendlichen in Jaffa und hat auch eine Fußballmannschaft aus arabischen und jüdischen Kindern in Jaffa gegründet.

Auch nach 100 Jahren ist Tel Aviv noch viel zu lebendig, um sich seiner kurzen Geschichte hinzugeben. Hier ist immer noch alles in Bewegung. Kunst, Kultur, Wissenschaft und Kreativität treiben schöne Blüten. Und umgeben von all dem politischen Wahnsinn ist es einer der normalsten Orte Israels. Die Menschen in Tel Aviv hoffen, dass das auch in den nächsten hundert Jahren so bleiben wird.

(Text 3sat)

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