Israels Mittel(auf)stand
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Israels Mittel(auf)stand

von Grisha Alroi-Arloser, Bundesgeschäftsführer der Deutsch-Israelischen Wirtschaftsvereinigung

TEL AVIV (diw) – Der israelische Mittelstand hat in der größten Demonstration der Geschichte Israels fünf Prozent der Gesamtbevölkerung auf die Straße gebracht. Seit Wochen reißen die Sozialproteste im Land nicht ab: Studenten, Rentner, Eltern, Ärzte, Lehrer, Sozialarbeiter, alleinerziehende Mütter, aber auch Moshe Normalverbraucher wollen einfach nicht mehr: obwohl die Wirtschaftsdaten Israels außergewöhnlich gut sind, das Wachstum mit fast fünf Prozent robust, die Arbeitslosigkeit mit 5,7 Prozent ein historisches Tief und die Devisenreserven mit 70 Milliarden US-Dollar ein Allzeithoch erreicht haben, die Steuereinnahmen der Regierung weit über den Erwartungen liegen und die Erdgasfunde vor der Küste eine maßgebliche Entspannung in der Energieversorgung versprechen, sind die Lebenshaltungskosten dermaßen horrend, dass auch bei zwei Einkommen pro Familie kaum einer aus den roten Zahlen kommt.

Weitreichende Privatisierungen, die Aufhebung von Preiskontrollen und die problematische Nähe zwischen Politik und wenigen superreichen Familien haben im vergangenen Jahrzehnt, vor allem aber seit Amtsantritt der zweiten Netanyahu-Regierung zu einer Kostenexplosion geführt, die dem Großteil der israelischen Bevölkerung die Früchte der positiven Wirtschaftsentwicklung vorenthalten. Bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 1.500 Euro sind Mieten von 800 Euro und mehr nicht bezahlbar. Kindertagesstätten – unabdingbare Voraussetzung, wenn beide Eltern arbeiten – kosten pro Kind gut und gerne 500 Euro. Das einst stark sozialistisch geprägte Israel hat sich zur wohl ungleichheitlichsten Gesellschaft unter den OECD-Staaten entwickelt.

Begonnen hatte es mit dem ersten Verbraucherboykott in der Geschichte Israels vor sechs Wochen. Der Preis für 200 Gramm Hüttenkäse hatte 1,55 Euro überschritten, und über das Internet wurde zu einem Boykott aufgerufen. Einige Wochen später begannen junge Leute zuerst in Tel Aviv, wenig später im ganzen Land Zeltlager aufzuschlagen, um gegen die unerschwinglichen Mietpreise und die Unmöglichkeit, irgendwann Wohneigentum zu erwerben zu protestieren. Zulauf erhielten sie von den verschiedensten Protestgruppen, wobei es keiner politischen Partei gelang, sich vor den Karren zu spannen. Auch der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes wurde nicht als Katalysator akzeptiert. Dem Protest schlossen sich Linke und Rechte, orientalische und ashkenasische Juden, Alteingesessene und Neueinwanderer, Araber und Drusen, Siedler und Orthodoxe, Junge und Alte an. Gestern Abend erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt: 350.000 Menschen gingen landesweit auf die Straße, in Tel Aviv allein waren es über eine Viertel Million. Beliebte Künstler zeigten sich solidarisch und traten vor einem Meer aus Plakaten auf. Zur Hymne wurde der Refrain eines Lieds von Shlomo Artzi: „Eines Morgens richtet sich das Volk auf und macht sich auf den Weg.“

Die Netanyahu-Regierung ist sichtlich nervös: Schnellschüsse, Beschuldigungen, Solidaritätsbekundungen und Untersuchungsausschüsse wechseln einander ab. Aus der Vielstimmigkeit des Protests kristallisieren sich 10 Forderungen heraus:

  • Privatisierungsstopp
  • Herabsetzung der Mehrwertsteuer um 3% pro Jahr von heute 16% auf letztendlich 7%
  • Einführung einer Erbschaftssteuer auf Nachlässe über 600.000 EUR
  • Wiedereinführung der Preiskontrolle für Heizöl, Gas und Lebensmittel
  • Einrichtung einer Mitpreisaufsichtsbehörde
  • Begrenzung der Anzahl von Schülern pro Klasse auf 21
  • Kostenlose Kindertagesstätten ab dem 3 Lebensmonat und landesweite Einführung der Ganztagsschule bis 17.00 Uhr, einschließlich einer warmen Mahlzeit
  • 50% Subvention der öffentlichen Verkehrsmittel für alle
  • Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 50% des Durchschnittseinkommens
  • Einführung einer 3jährigen Karenzzeit für Beamte des Finanzministeriums, bevor sie in die Privatwirtschaft wechseln dürfen

Nicht nur angesichts der dramatischen Wirtschaftsentwicklungen in den USA und in Europa wäre die Durchsetzung sogar eines Teils dieser Forderungen mit unverantwortlichen Mehrkosten verbunden. Möglich ist ein derartiger Paradigmenwechsel nur dann, wenn die nationale Prioritätenordnung verändert wird: kein Geld mehr für den Siedlungsbau, stattdessen Errichtung von erschwinglichen Sozialwohnungen im Kernland; keine Investitionen in die Infrastruktur der besetzten Gebiete, stattdessen Subvention des öffentlichen Verkehrs; keine Milliardengeschenke an die Orthodoxen, stattdessen eine einschneidende Reform des säkularen Schulwesens; Reduzierung des Verteidigungshaushalts um 5 Prozentpunkte bei gleichzeitiger Senkung des Mehrwertsteuersatzes.

Noch werden diese Zusammenhänge nicht aufgezeigt, noch ist die Protestbewegung mehr oder weniger unpolitisch. Aber sehr bald wird die nicht mehr schweigende Mehrheit deutlich fordern, die unumgängliche Neuordnung der Prioritäten vorzunehmen. Netanyahu ist dazu ideologisch nicht imstande. Auch wenn die jetzige Koalition der politischen Trägheit stabil erscheint, wird die Protestbewegung Israels politische Landschaft auf Dauer verändern.

Nicht der Frieden, nicht die Aussöhnung mit den Palästinensern, nicht die Siedlungspolitik waren in der Lage, die Massen zu mobilisieren. „It´s the economy, stupid“, rufen die Israelis heute ihrem Regierungschef zu. Dass ihre berechtigten Forderungen aber von enormer außen-, friedens- und sicherheitspolitischer Brisanz sind, hat er bereits begriffen.

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